Mittwoch: Wir sehen uns wieder. Und irgendwie war ich nervös. Weil wir eigentlich wussten, was wir fühlen. Zumindest würde jedes freundschaftliche Interesse an diester Stelle überraschen. Ich hatte im Gefühl, dass du genauso über das Küssen nachgedacht hast, wie ich es getan habe. Wir hatten kein direktes Ziel als wir uns sahen, wir hatten nur einen Treffpunkt ausgemacht. Erst liefen wir wie verlorene Seelen umher, beide so sehr darauf wartend, dass der andere das Herumirren erlöst. Irgendwann bleiben wir auf der Ecke zwischen Hauptbahnhof und Cafe/Kneipen stehen. Er sieht mich an, wir stehen nicht einmal 30 cm von einander entfernt. Ich versuche dem Blick standzuhalten, merke wie sein Blick auf meinen Lippen landet, er grinst kurz, dann der Blick wieder von vorn. Wir beide zappeln dumm mit den Füßen herum aber bewegen uns nicht. Mein Herz schlägt so unkontrolliert, dass ich kaum atme. Irgendwas löst die Spannung und wir beschließen, dass wir ins naheliegende Cafe gehen. Diesmal sitzen wir nicht, wie beim letzten Mal (wir verbrachten unser zweites Treffen schon hier), an einem der beobachtbaren zweier Tische in der ersten Reihe, sondern an einem runden, etwas abseits von allen anderen stehenden Tisch.
Selbst unser Gespräch kommt zunächst schwer in Gange, als hätten wir bereits alles besprochen. Dann reden wir über seinen Arbeitstag, plötzlich über meine Familie, mein Verhätnis zu meinem Vater, wieso ich für mich ausziehen musste. Und dann fragt er: "Darf ich eine vielleicht unangenehme Frage stellen, die du nicht beantworten musst: Als du mich damals nach dem ersten Treffen gefragt hast, war das spontan oder geplant?" Wie ihr wisst, war es geplant, aber ich erzähle ihm jedes Detail, jede Frage, die ich mir gestellt habe, als wäre es eine Aussage vor Gericht, mit soviel mehr Gefühl und deutlich weniger strengen Nachfragen von ihm. Es ist ihm beinahe unangenehm mir diese ganzen Fragen zu stellen, aber es sind diese, die ihn beschäftigen, die ihn wachhalten, wenn er eigentlich schlafen sollte.
Er erzählt mir, dass er schon in dem Seminar vor diesem (also Wintersemester 15/16(!)) absichtlich neben mir saß. Dabei hat er auch meinen Namen herausgefunden, weshalb es ihm überhaupt möglich war, mir eine Email zu schreiben. An dem Freitag nach der Frage nach dem ersten Treffen, wollte er mich nicht ignorieren, aber er hatte einfach keinen Mut mit mir zu sprechen. Er erzählt mir all die Dinge, die er in den ganzen Monaten gedacht hat. Innerlich aufgegeben hatte, weil ich nicht auf "Nichts" reagiert habe. Doch dann kam das Referat, die Blicke und er hat wohl kurz überlegt, ob das alles doch noch Hoffnung hat. Und ist beinahe durchgedreht, als ich ihn nach dem Kaffee gefragt habe.
Es ist gruselig wie ehrlich wir miteinander sind. Es ist beängstigend, wie viele gleiche Gedanken wir uns gemacht haben in den diesen ganzen Tagen. Wir reden auch nochmal über die verlorene Silvesternacht, in der wir nicht wussten, dass es so viel leichter ist über alles zu reden. Dass es uns sogar leicht fällt über all das zu reden.
Als wir dann an der Ubahnstation stehen, müssen wir jeweils 7 Minuten auf die Bahn warten, die von verschiedenen Gleisen fährt, weshalb wir oben bei den Treppen stehen und zusammen warten. Wir hatten gegen Ende des Aufenthaltes im Cafe schon keine richtigen Themen mehr, waren zu sehr damit beschäftigt, was der andere gerade erzählt hat. Aber es gab noch etwas, das uns beide ganz deutlich beschäftigt: die Körperlichkeit. Wir stehen bis zu 3 Minuten da und starren abwechselnd zwischen Augen und Lippen und dem Boden hin und her. Zwischen unseren Füßen liegen maximal 15 cm, schätze ich. Wie schon am Anfang spielt mein Atem verrückt, weiß ich genau, was ich will und mache nichts. Ich kann von ihm nicht erwarten, dass er sich traut. Ich weiß, dass er sich nicht traut. Und ich bin starr. Vor Angst vor dieser Übermacht der Gefühle vielleicht, vor Versagensangst vielleicht auch. Wir gucken beide auf die Anzeige und sehen, dass seine Bahn in einer Minute fährt und er sagt beinahe tonlos: Ich glaube, ich muss los und bleibt trotzdem stehen, bewegt sich kein bisschen. Macht nichtmal Anstalten mich zu verabschieden, als würde er noch auf was warten. Ich gehe auf ihn zu und umarme ihn und renne förmlich in Richtung meiner Treppen. Ich schau nochmal zu ihm zurück, er läuft Richtung seiner Bahn, aber schaut auch zu mir.
Ein Gefühl, das man schwer beschreiben kann. Als hätte man versagt, ohne was getan zu haben. Als wäre das bloße Ausbleiben der Fehler. Mein Herz schlägt noch immer viel zu schnell, mein Atem ist viel zu unkontrolliert. "Hast du deine Bahn noch bekommen?", schreibe ich ihm, weil ich weiß, dass es ihm genauso geht. "Natürlich. Das gerade war mega merkwürdig. Es tut mir Leid" - "Ich wollte mich auch gerade entschuldigen." - "Tja, diesmal war ich schneller.." Er ist so in Gedanken, dass er sogar eine Station zu weit fährt und von der Uni nach Hause läuft, während ich eine zu früh aussteigee, damit ich noch ein paar Meter laufen kann.
Obwohl wir schon wieder 4,5 Stunden zusammen waren, schreiben wir in der Nacht noch gute 3 Stunden weiter. "Es ist glaube ich schon offensichtlich, dass wir gerne zusammen sind. Trotzdem bin ich bei manchen Sachen sehr unsicher und ich weiß nicht, was ich machen soll. Das bitte ich einfach zu entschuldigen", schreibt er kurz bevor wir uns erneut für Freitagabend verabreden. Drei Tage, zwei Treffen, das nennt man wohl Sehnsucht. Später schreibt er dann noch: "Wenn man bedenkt, dass wir vor einem Jahr lang ein Semester lang (mehr oder weniger bewusst) nebeneinander saßen, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln, dann ist das doch ein unfassbarer Fortschritt und ich bin halt einfach froh, dass ich dich kennenlernen darf und hoffe eben, dass es noch lange nicht vorbei ist. So, damit musst du jetzt leben" - "Die wirklich guten Dinge brauchen eben Zeit. Einen Fortschritt, den ich selbst nie für möglich gehalten habe, Es gibt Menschen, die ich durchaus leiden kann, die nicht einmal nach Jahren einen Bruchteil von dem wissen oder gar verstehen. Und dann bist da du, der mir in so vielen Dingen so (beinahe beängstigend) ähnlich ist und es ist so als könnte ich dir alles erzählen, wenn auch manchmal mit mehr Gedanken darüber, obs nicht zu peinlich ist. Ich glaube also, damit kann ich ganz gut leben." - "Ich will das jetzt auch nicht zu weit treiben, aber eigentlich hatte ich die Hoffnung schon aufgegeben. Die letzten 4 Wochen waren aber wahrscheinlich die besten in meinem Leben, auch trotz oder gerade wegen der ganzen Aufregung. Nie zuvor habe ich so optimistisch in die Zukunft geblickt. Was auch immer passieren mag, dafür werde ich dir ewig dankbar sein. Jetzt muss aber wirklich gut sein."
Und ich sitze dort und merke zum vermutlich ersten Mal, wie es ist, jemanden aus seinem Loch zu holen. Wie es ist, jemandem Hoffnung zu geben. Und das nicht unbegründet. Alles andere als unbegründet.
Das klingt so schön. Ich freu mich für dich, für euch, und ich hoff, es geht so gut weiter!
AntwortenLöschenÜbrigens. Das mit dem Küssen war bei uns ähnlich, am Anfang haben wir uns beide nicht wirklich getraut. inzwischen ist es normal :)